Viele Spiele werben damit, dass sie die Grenze zwischen Film und Spiel überschreiten, doch meistens gilt das nur für die Videosequenzen oder ist eine Marketinglüge. Wie kein anderes Spiel hat sich Heavy Rain auf die Fahnen geschrieben, einen interaktiven Film abzuliefern, der neben einer packenden Story auch noch Spielspaß bietet. Ist das diesmal gelungen oder ist es eine weitere Lüge?
Vom Regen in die Traufe
Ethan Mars ist nicht zu beneiden, denn sein Leben geht zusehends den Bach runter. Sein perfektes Leben hat sich innerhalb kurzer Zeit in einen dunklen Albtraum verwandelt. Und nun wurde auch noch sein Sohn vom Origami-Killer gekidnappt. Er hat nur wenige Tage Zeit, seinen Sohn zu retten, und der Untertitel des Spiels „How far are you prepared to go to save someone you love?“ wird sein neuer Leitspruch. Scott Shelby hingegen ist ein Privatdetektiv, der im Auftrag der Opfer des Killers auf eigene Faust Ermittlungen anstellt. Norman Jayden ist ein FBI-Profiler, der der örtlichen Polizei helfen soll, den Killer zu fassen. Die vierte Protagonistin ist Madison Paige, eine Journalistin, die über den Origami-Killer berichtet und ihn überführen will. Die Schicksale dieser vier Menschen nimmt der Spieler abwechselnd in seine Hand. Vier glaubhafte Charaktere mit vier unterschiedlichen Motivationen und eigenen menschlichen Schwächen, die alle nur ein Ziel haben, nämlich den Killer zu entlarven und Ethans Sohn zu retten.
Die Ruhe vor dem Sturm
Das interaktive Drama ist unterteilt in rund 60 Kapitel, die allerdings nicht alle in einem Durchgang erspielt werden können. In jedem davon spiele ich einen anderen der vier Helden, manchmal auch zwei, denn von Zeit zu Zeit begegnen sie sich. Abhängig von meinen Entscheidungen erspiele ich neue Kapitel oder überspringe welche, doch meistens verändern sich die Inhalte der Kapitel selbst. Die meisten Entscheidungen haben in irgendeiner Weise früher oder später Auswirkungen auf das Spiel, oft nur in Details wie Verletzungen, doch je weiter die Geschichte fortschreitet, desto schwerer sind die Konsequenzen. Das Spiel stellt dabei sicher, dass Schlüsselszenen immer gespielt werden, wenn auch unterschiedlich, denn es ist nicht möglich, den Erzählstrang eines Charakters komplett abzuwürgen – es sei denn, die Figur stirbt. Jeder Held kann sterben, doch das gestaltet sich teilweise als recht schwer. Die Spielzeit hängt stark von den eigenen Handlungen und Entscheidungen ab, denn ein und das selbe Kapitel kann in fünf Minuten vorbei sein oder auch eine halbe Stunde dauern. Durchschnittlich dauert es acht bis neun Stunden bis der Killer gefunden ist und der Spieler in den Genuss einiger der über 20 vielseitig gestalteten Endsequenzen kommt. Doch damit dürfte das Spiel für viele noch nicht vorbei sein. Im Verlauf der Handlung gibt es so viele „Was wäre wenn?“-Momente, dass sich mindestens ein weiterer Durchlauf lohnt. Wer dabei nicht komplett von vorn anfangen möchte, kann per Kapitelwahl komfortabel direkt zur interessanten Stelle springen und dort gezielt den Lauf der Dinge verändern. Auf Wunsch wird der Fortschritt sogar nicht gespeichert, so dass der Spielstand nicht verändert wird und zum Herumprobieren einlädt. Bestimmte abgeschlossene Kapitel schalten zudem Boni wie Making Ofs und Konzeptzeichnungen frei, die in einem eigenen Menü angesehen werden können. Auch die bereits erhaltenen Trophäen und bald kommender DLC können hier angesehen werden.
Sturmflut
Zugegeben, die ganze Geschichte um den Killer nimmt etwas verzögert Fahrt auf, was sich trotzdem positiv auf die Atmosphäre auswirkt. Heavy Rain ist nicht so gestrickt, wie man es von den meisten Spielen kennt, sondern mehr wie ein Film. Die Story entfaltet sich langsam, baut dabei aber eine sehr dichte Atmosphäre auf und schafft es, dass ich mit den Helden mitfiebere. Wie in einem guten Film passt dabei alles zusammen. Die Farbpalette ist zuerst knallig bunt und wird zusehends düsterer, die Farben dunkler, genauso das Wetter. Der Prolog steht dabei im krassen Kontrast zum Rest des Spiels und entfaltet dadurch eine besondere Wirkung. Ich leide mit, wenn Ethan um seinen Sohn kämpft oder Shelby ein paar Hiebe einsteckt. Ebenso werde ich zum Ermittler, wenn Jayden die Beweise sichtet, um den Killer mit hochmodernen FBI-Methoden ausfindig zu machen oder zum Reporter, wenn Madison auf ihre eigene Art der Spuren verfolgt. Die Orte, die ich im Laufe der Geschichte zu sehen bekomme, sind abwechslungsreich und durchgehend gut und detailliert gestaltet. Meistens auch ohne Ladezeiten, denn die gibt es nur am Anfang jedes Kapitels und tauchen nur sporadisch in ihnen auch – und sind dann sehr kurz. Die Actionszenen in Heavy Rain gehören dank ihrer Dynamik und der guten Choreographie nebst ausgezeichneter Kameraführung zu den intensivsten, die ich in letzter Zeit gespielt habe. Die durchweg gute Platzierung der Quick Time Knöpfe innerhalb der Szene sorgt dafür, dass ich mich auch auf das Gezeigte konzentrieren kann und nicht nur auf die Knöpfe achte. Dazu spielt stets passend ein emotionales Orchester, egal ob nun Action oder Ruhe angesagt ist. Die Action in Heavy Rain wird euer Herz zum Rasen bringen und der melancholische Unterton vieler Szenen wird es rühren. Vor allem diejenigen, die selbst Kinder haben. Die Inszenierung ist mit ihren dramatischen und abwechslungsreichen Kamerawinkeln, Spielereien mit Fokus, Unschärfe und geteilten Bildschirmen und Kamerafahrten hollywoodreif. David Cage hat hier als Regisseur einen wirklich sehr guten Job gemacht. Das Zusammenspiel von Bild und Ton verstärkt diesen Effekt noch. Die deutsche und englische Synchronisation ist ungewöhnlich gut und verleiht den Figuren Charakter. Dankenswerterweise sind diverse Sprachen im Spiel enthalten, so dass man die Wahl hat. Leider sind die Figuren nur mit der englischen Fassung größtenteils lippensynchron. Getrübt wird das Vergnügen außerdem von ein paar Ungereimtheiten in der Story und Inkonsistenzen gegen Ende des Spiels. Die meisten davon sind zwar irgendwie einigermaßen logisch erklärbar, doch es wäre schön gewesen, wenn das Spiel selbst eine Erklärung dazu liefern würde. Trotzdem hat Heavy Rain eine der besten Videospielgeschichten der letzten Jahre.
Klatschnasse Knöpfe
Heavy Rain verzichtet konsequent auf irgendwelche Anzeigen. Lediglich kleine Kästchen erscheinen, um mögliche Handlungen anzuzeigen. Dabei wird sehr genau darauf geachtet, dass die Aktion möglichst exakt mit dem Controller nachgeahmt wird. Wer eine Flasche Saft schütteln will, muss den Controller ebenfalls hoch und runter schütteln. Gliedmaßen werden ähnlich wie in Assassin’s Creed eine Taste zugewiesen, so dass z.B. die Beine und Füße immer mit den Schultertasten zu tun haben. Feinfühlige Handlungen wie das Auftragen von Lippenstift müssen langsam mit dem rechten Analogstick ausgeführt werden. Werden die Handlungen sehr komplex, ist teilweise Fingerakrobatik gefragt: Nicht jeder kann L1, R1, R2, X und Rechteck spielend leicht gleichzeitig drücken. Das gesamte Spiel besteht eigentlich aus Quick Time Events, aber sie fühlen sich nicht so an, da sie nicht nur Reaktionstest sind, um das Weiterkommen zu ermöglichen, sondern ein komplettes und durchdachtes Steuerungskonzept. Auch der Gemütszustand der Figur wird dadurch transportiert, denn die Kästchen zittern und verschwimmen, wenn der Charakter unter Anspannung steht. Das macht sie schwerer zu erkennen, aber genau das ist auch so gewollt. Das hilft mir als Spieler ungemein dabei, mich in den Charakter hineinzuversetzen. Natürlich gibt es auch solche Quick Time Events, wie wir sie aus God of War kennen, nur dass ein falscher Knopfdruck nicht zum Scheitern führt, sondern lediglich den Fort- und Ausgang der Situation leicht verändern kann. Das beugt Frust vor, da ich nur äußerst selten gezwungen werde, eine Buttonfolge exakt schaffen zu müssen – und das dann auch ohne Zeitdruck. Die bereits seit der Demo bekannte und viel diskutierte Bewegungssteuerung wurde beibehalten und ist gewöhnungsbedürftig, doch wenn man den Drang bekämpft, den Stick ständig in die Laufrichtung zu drücken, wie es bei fast jedem Spiel nötig ist, sondern nur dann zu benutzen, wenn man die Richtung wechseln will, dann geht die Steuerung schnell gut von der Hand und auch Kamerawechsel machen so keine Probleme mehr. Nerviger ist dagegen, dass die eigene Figur gerne mal irgendwo hängen bleibt. Doch selbst in hektischen Situationen wird euch das nie den Kopf kosten und bleibt damit nur eine Kleinigkeit.
Regen auf meiner Haut
Die Engine von Heavy Rain ist ein grundsolides Stück Programmierkunst. Sie zaubert glaubhaft große Menschenmassen ohne spürbare Performance-Einbrüche ebenso hin, wie komplett eingerichtete Häuser mit allen kleinen Details, die auf die Bewohner und ihre Gewohnheiten schließen lässt. Generell wurde viel Wert auf Details gelegt, was sich überall bemerkbar macht und die Schauplätze sehr real aussehen lässt. Gleiches gilt für die Animationen der Charaktere und ihre Gesichtszüge. Emotionen sind in ihren Gesichtern sehr gut lesbar und glaubhaft dargestellt. Es gibt Spiegelungen in ihren Augen, sichtbare Hautporen und subtile Muskelbewegungen. Die Gesichter sehen ihren realen Vorbildern zum Verwechseln ähnlich. Etwas weniger detailliert ist der Rest des Körpers, was sich allerdings nur in extremen Nahaufnahmen bemerkbar macht, die äußerst selten sind. Dank Motion Capturing sind die Animationen lebensecht, nur wenige bestimmte Bewegungen sehen etwas komisch aus. Besondere Aufmerksamkeit genießt natürlich der Regen. Er rinnt allen Figuren am Gesicht herab und bildet an Kinn und Nasenspitze kleine Tropfen, die nach einiger Zeit herunterfallen. Er tropft an Autos und Scheiben herunter, verzerrt dabei korrekt die Sicht, durchnässt die Kleidung, verursacht Wellen in Pfützen und Spuren im frischen Matsch verschwinden langsam wieder. Einziger Kritikpunkt: Die Pfützen reagieren nicht auf Schuhe oder hindurch fahrende Autos. Leider tritt immer mal wieder leichtes Tearing auf. Es ist erträglich, aber dennoch ärgerlich. Auch gibt es minimale Sound- und Grafikruckler am Anfang einiger Kapitel. Der bereits erschienene Patch hat diese zwar gemildert und einige auch eliminiert, aber sie sind immer noch da. Glücklicherweise dauern sie gerade mal eine Sekunde. Ansonsten läuft das Spiel annähernd bugfrei und stabil. Zum Sound kann nur eines gesagt werden: Spitzenklasse! Die musikalische Untermalung ist ein stimmiges Kunstwerk und passt immer zur aktuellen Szene. Die Soundeffekte sind ähnlich gut und Wiederholungen oder Recycling wird vermieden. Einige Effekte sind nicht ganz gelungen, aber das ist die Ausnahme.
FAZIT:
Ich bekomme ein wenig Bauchschmerzen, wenn ich Heavy Rain eine Bewertung geben muss, da es kein wirkliches Spiel ist, aber auch kein echter Film. Es ist eine gelungene Symbiose, ein Genre-Experiment und wird daher stark polarisieren. Eine langweilige Quick Time-Orgie für die einen, ein spielbarer Blockbuster für die anderen. Wer Fahrenheit, den Vorgänger aus dem Hause Quantic Dream, mochte, kann bedenkenlos zugreifen. Wer bereit ist, sich auf Heavy Rain als einen interaktiven Film ohne Explosionen und strahlende Helden im Sekundentakt einzulassen, wird ebenfalls glücklich werden. Es ist eine willkommene Abwechslung von dem, was Spieler üblicherweise geboten bekommen – und dabei bekommt man noch eine absolut gelungene Geschichte erzählt. Heavy Rain ist die emotionalste Erfahrung, die ich seit Jahren in einem Spiel erleben durfte.
[ Review verfasst von Sanguinis ]
.ram’s Kommentar:
Ich hatte ja das Glück, Heavy Rain vor meinem Kollegen Sanguinis durchzuspielen, aber eben nur einmal, so dass es letzten Endes „nur“ für einen Kommentar reicht. Da ich bereits Quantic Dreams letztes Werk „Fahrenheit“ getestet habe (siehe OnPSX Review), war ich gegenüber dem neuen Spiel eher kritisch eingestellt. Würden die Franzosen dieses Mal eine bessere Story abliefern? Würde es dieses Mal nicht wieder minutenlange Quicktime-Orgien geben? Zum Glück haben sich die Entwickler tatsächlich gebessert und Heavy Rain ist das, was auch schon Fahrenheit hätte sein können. Nämlich ein gelungener interaktiver Thriller, oder wie ich es gerne formulieren möchte – die nächste Stufe im althergebrachten Adventure Genre. Die Symbiose zwischen Film und Spiel ist nahezu perfekt und dank der zahlreichen Möglichkeiten und dem Fakt, das man beim ersten Mal sowieso nicht alles erleben kann, wird auch noch für einen ordentlichen Wiederspielwert gesorgt. Somit bleibt mir nur eines zu sagen: Heavy Rain muss man gespielt haben.
Pluspunkte:
- Sehr gute, emotionale Story
- Dynamische Storyentwicklung mit mehreren Enden
- Sehr gute Charakteranimation und Grafik
Minuspunkte:
- Kleine Ungereimtheiten in der Story
- Gewöhnungsbedürftige Steuerung
- Leichtes Tearing
P.S: thirst